Kinder und Jugend im Michaelisquartier
Stadtteilzeitung Ost-Innenstädter - Doppelseite MQ 11/2022
Ein Buch über die Kindheit und Jugend im Michaelisviertel nach dem zweiten Weltkrieg.
Zur Entstehung: Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Schulleitung der Elisabeth-von-Rantzau-Schule haben 2013 mit der Initiative „MITTENDRIN - Quartiersarbeit im Michaelisviertel“ und vielen Bewohnenden des Viertels das Buch „Kindheit und Jugend im Michaelisviertel - Kirchturm, Kiosk, Kinderspiele“ erstellt. Lesen Sie hier den Beitrag über Maria Jahns - Jahrgang 1929 - von Vanessa-Emely Lange. (Foto: Scan vom Einband)
„Das Läuten der Glocken bedeutete oft Hochzeit“
An einem Montagnachmittag, den 29. Oktober 20l2, wurden meine Klassenkameradin und ich sehr herzlich von Frau Jahns begrüßt, die uns mit leckerem Kaffee und Kuchen in ihrer Wohnung in der Schenkenstraße 4 empfing. Ihre sympathische und offene Art machte dieses lnterview zu einer sehr angenehmen Erfahrung.
Schnell wurde klar, dass Frau Jahns eine besondere Frau ist, denn sie lebt bereits seit ihrer Geburt im Michaelisviertel und hat so einiges dort erlebt. Wenn sie an ihre Kindheit zurückdenkt, dann erinnert sie sich besonders gern an die Wintertage, denn dann war häufig schulfrei. Sie nutzte diese Gelegenheit gerne zum Rodeln am Liebesgrund und auch den Hang vor der Michaeliskirche hinunter, bis in den „Alten Markt" hinein. Aber das passierte alles heimlich, ohne Wissen der Eltern, da es ja bei Eisesglätte nicht ganz ungefährlich war. Ohnehin, erzählte mir Frau Jahns, war sie den ganzen Tag draußen spielen, außer bei ganz schlechtem Wetter. Draußen wurde Hunke-Punke (ein Hildesheimer Kinderspiel, heute besser bekannt als „Himmel und Hölle") gespielt oder Rad gefahren, letzteres allerdings nur, wenn Jungs mitfuhren, da es dann weniger gefährlich war. Auch brachte ihr die Jungs das Fußballspielen bei und Frau Jahns schlug sich wacker, trotz der Probleme, die sie mit ihrem Bein hatte, da sie bald nach ihrer Geburt an Kinderlähmung erkrankt war.
Natürlich musste sie in ihrer Kindheit auch im Haushalt mithelfen, besonders nachdem ihre zwölf Jahre jüngere Cousine in ihre Familie zog. Fortan waren die beiden wie Schwestern und so nennt Frau Jahns auch ihre Cousine heute noch ,,meine Schwester". Man bemerkt die enge Bindung der beiden.
Frau Jahns Familie wohnt bereits seit mehreren Generationen in demselben Haus. Wo früher im Hinterhof ein Waschhaus und ein kleiner Schweinestall stand, findet man heute einen kleinen Hof zum Toben für die Urenkel. Früher, erzählte uns Frau Jahns, waren die Toiletten nicht im Haus, sondern auf dem Hof im Waschhaus. Und wenn sie als Kind gebadet hat, dann in den großen Wannen des Waschhauses.
Mädchen und Jungen gingen zu ihrer Zeil auf getrennte Schulen. Frau Jahns besuchte zuerst die Moritzbergschule. Auf dem Schulweg und in der Schule lernte sie viele Freundinnen kennen. Später gab es dann die Treibeschule für Mädchen, die Vorgängerin der heutigen St.-Augustinus-Schule, auf die sie dann wechselte. Vorher hatte es nur die Knabenmittelschule gegeben. Nachdem allerdings eine Lehrerin ihr gegenüber handgreiflich geworden war, ging sie zurück auf die Moritzbergschule. Bis heute hat sie noch sechs Freundinnen aus der Schulzeit, mit denen sie sich trifft.
Frau Jahns ist katholisch und Mitglied der St.-Magdalenen-Gemeinde. Als Kind ging sie sonntags regelmäßig in die Kirche und nahm auch an Pfarrfesten teil. Gerade in der Zeit des Krieges waren für die Menschen die Kirche und die Feste, wie das Weihnachtsfest, etwas Wichtiges und Besonderes, erzählte sie mir.
Mit der St.-Michaelis-Kirche verbindet sie vor allem das Läuten der Glocken, denn das bedeutete häufig Hochzeit. Dann versammelten sich Frau Jahns und ihre Freundinnen vor der Kirche und spannten eine Schnur, um die Hochzeitsgäste aufzuhalten, bis diese einige Pfennige zahlten, um zur Kirche zu kommen, Auch spielten sie und ihre Freunde gerne an den Treppen der Michaeliskirche, was nicht gern gesehen wurde, aber Frau Jahns und ihre Freundinnen machten sich einen Spaß daraus. Heute findet Frau Jahns, können die Kinder nicht mehr so gut spielen in diesem Viertel wie früher, denn damals gab es noch nicht so viele Autos wie heute.
lm Michaelisviertel gab es zu Maria Jahns' Kinder- und Jugendzeit einen Schlachter und einen Schneider. Der Schlachter besaß einen Hund, der im Winter die halben Schweine auf dem Schlitten durch die Straßen zog.
Mit vierzehn Jahren verließ sie die Schule für ein sogenanntes Pflichtjahr. Das Pflichtjahr wurde l938 von den Nationalsozialisten eingeführt. Es galt für alle Frauen unter 25 Jahren und verpflichtete sie zu einem Jahr Arbeit in der „Land- und Hauswirtschaft". Frau Jahns verbrachte es bei den Großeltern in Ahrbergen. Während dieser Zeit hat sie einiges an Leid gesehen, denn es war das Jahr, in dem das Michaelisviertel zerbombt wurde. So auch das Haus von Frau Jahns' Familie. Nach der Zerstörung lebte sie, bis zum Wiederaufbau des Hauses zur Zeit ihrer Hochzeit in den 50er Jahren, in der Nordstadt. Seit dem Wiederaufbau wohnt sie wieder in der Schenkenstraße. Hier erlebte sie glückliche Jahre mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen Thomas und Christian und hier fühlt sich auch heute noch sehr wohl.
Maria Jahns ist mittlerweile verstorben.
Auszug aus dem Buch mit freundlicher Genehmigung der Elisabeth -von-Rantzau-Schule. Verlag Druckhaus Köhler GmbH, Harsum ISBN 978-3-9383385-56-2