Corona-Bewältigung im Michaelisquartier - ein Erfahrungsbericht

Stadtteilzeitung MQ Juni 2021 - Redaktion (Elena Vogel)

Corona im MichaelisQuartier. Wie wirkt sich das aus, wie bewältigen die Menschen die Situation? In schwierigen Zeiten kann der Austausch von Erfahrungen hilfreich sein und dazu beitragen, die Situation für den Einzelnen einfacher zu machen. Wir möchten Bewohner unseres Quartiers dazu zu Wort kommen lassen. Peter Spilker (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.) oder Dieter Goy (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.) freuen sich auf Rückmeldungen! Familie Ott hat sich für das zweite Interview dieser Reihe bereit erklärt. Elena Vogel, Migrationsberatungsstelle für erwachsene Zuwanderer (MBE), Diakonisches Werk Hildesheim - Ehrenamtskoordination - hat das Interview geführt.

Familie Ott sind Spätaussiedler aus Kasachstan und kamen im September 2020 nach Deutschland. Herr Ott ist der Klient an der Migrationsberatungsstelle für erwachsene Zuwandere (MBE) des Diakonischen Werks und erzählt gerne über sein Leben. 

Die Vorfahren des Ehepaars wurden aus den verschiedensten Gründen und zu den unterschiedlichen Zeitpunkten nach Kasachstan, nach Arbeitslager in Karaganda (Stadt in Kasachstan) vertrieben: Als Kriegsgefangener in dem zweiten Weltkrieg, als wohlhabende Familie in der Zeit der Liquidierung des Großbauernturms und als Angehörige des deutschen Volkes nach dem Krieg. Kasachstan hat alle Bevölkerungsgruppe aufgenommen und hat somit zur Bildung einer großen Einwanderungsgesellschaft beigetragen. In Kasachstan leben Weißrussen, Tschetschenen, Russen, Ukrainer und andere Völker der ehemaligen UdSSR.

Elena Vogel (Beraterin der MBE): Herr Schmidt, vielen Dank, dass Sie sich bereit erklärt haben, heute über Ihre Anreise nach Deutschland zu erzählen. Wie war es?

Herr Ott: Unser Leben in Kasachstan war gut organisiert.: Ich habe 15 Jahre lang bei der Zivilschutzbehörde (Abteilung Notsituationen) gearbeitet und habe den Titel Oberstleutnant erworben. Meine Frau war im sozialen Bereich tätig. Trotzdem haben wir im September 2020 die Entscheidung getroffen, nach Deutschland auszureisen. Die Entscheidung fiel uns nicht einfach: In Karaganda blieben die Eltern, meine Tochter aus der ersten Ehe, die Freunde und der Job zurück.  Auch alles, was wir in allen diesen Jahren aufgebaut und erreicht haben. Wir haben uns für die Ausreise entschieden, weil wir unserer zweijährigen Tochter eine bessere Zukunft ermöglichen möchten und um auch für uns selbst neue Perspektive zu finden. Des Weiteren ist das Klima in Europa viel milder.

Elena Vogel: Wie war Ihr erster Eindruck? Ein neues Land, neue Sprache, neue Strukturen.

Herr Ott: Unser erster Eindruck war positiv. Die finanzielle Unterstützung für die Spätaussiedler war auch sehr hilfreich: Am Flughafen wurden wir abgeholt und in ein Hotel gebracht, wo wir 2 Wochen in der Quarantäne blieben. Die Tests haben wir am Flughafen machen lassen und bis die Ergebnisse da waren, wurde uns sogar das Essen vor der Tür gestellt. Als die Testergebnisse da waren, durften wir nach draußen und später nach Friedland, wo wir auf die weitere Zuweisung gewartet haben. Eigentlich wollten wir nach Baden-Württemberg, wo die Tante von meiner Frau wohnt, aber dahin konnten wir leider nicht, weil die Kommune schon ziemlich voll ist. Es wurden uns einige andere Bundesländer vorgeschlagen und wir haben uns für Niedersachsen entschieden.
In Friedland wurden wir auch gut unterstützt: Da wir nur eine begrenzte Menge von unseren persönlichen Sachen mitnehmen konnten, fehlte uns einiges an Kleidung. In Friedland wurde dafür besorgt, dass wir die benötigte Kleidung bekommen haben. Da unser Kind noch sehr klein ist, ist es an die bestimmte (Kleinkinder) Nahrung angewiesen. Auch das haben wir für unsere Tochter erhalten.  
Im Oktober sind wir nach Hildesheim gekommen und in eine Unterkunft, die die Kirche der Stadt zur Verfügung stellt, eingezogen. Da wohnen wir zurzeit noch.
Es gab aber einiges, was wir nicht so schön fanden. Wir haben immer Deutschland für ein sehr sauberes Land gehalten und wurden ein bisschen überrascht, als wir im Zentrum Müll auf den Straßen gesehen haben. Wahrscheinlich liegt das auch an die Corona Situation, vielleicht wurden auch einige Arbeitsplätze gekündigt.
Ich würde sagen, dass die deutsche Mentalität schon anders ist. In Kasachstan leben viele Völker zusammen, alle stammen aber aus den ehemaligen UdSSR und halten zusammen. Deutsche sind sehr freundlich, aber ein wenig zurückhaltend. Wir sind eher offen. Aber das ist für uns gar kein Hindernis, um in die neue Gesellschaft integrieren zu können. 

Elena Vogel: Wie haben Sie sich am Anfang gefühlt? Wie fühlen Sie sich jetzt?

Herr Ott: Ein ganz anderes Land, andere Menschen. Alles ist neu und fremd … du bist allein, wie in einer Wüste. So war es am Anfang. Die ersten 2 Monate konnten wir uns mit keinem treffen, es gab dafür keine Gelegenheit und keine Möglichkeit mit jemandem sprechen zu können.
In der ersten Zeit war es sehr schwierig: Die Sprache beherrschen wir noch nicht gut genug, um sich problemlos mit Deutschsprachigen zu unterhalten. In Kasachstan habe ich erst A1, ein einfaches Sprachniveau erworben, meine Frau kann die Sprache zurzeit nur mündlich. Aber in einem anderen Land die erlernte Sprache zu sprechen, ist ganz anders als an einem Deutschkurs: Es kommen neue unbekannte Wörter, Redewendungen und die Sprache klingt ganz anderes. Sehr große Hilfe haben wir an den Beratungsstellen bekommen: Migrationsberatungsstelle des Diakonischen Werks, Beratungsstellen von Asyl e. V. Die Berater haben für uns wichtige Termine vereinbart und viel telefoniert. Wir haben große Schwierigkeiten gehabt, alle diese Briefe zu verstehen, die wir bekommen haben sowie Leistungen und Kindergeld zu beantragen etc. Die Beratungsstellen haben uns dabei gut unterstützt. Auch das Jobcenter hat uns viel geholfen: Nicht nur die Leistungen zum Lebensunterhalt, sondern auch z. B. die Sachen für unsere Tochter wurden genehmigt und ausgezahlt. 
Langsam haben wir uns an unser neues Zuhause gewöhnt.
Das Wichtigste ist nun erledigt: Wir haben unsere deutsche Bürgerschaft bestätigt und deutsche Ausweise erhalten. Was uns sehr positiv überrascht hat, dass im gesundheitlichen Bereich sehr viel von der Krankenversicherung übernommen wird. In Kasachstan bekommen z. B. Kinder die Medikamente nicht kostenfrei.
Unsere Wohnung war nicht besonders schön, wir habe sie aber gründlich geputzt und als vorläufige Unterkunft finden wir sie nun in Ordnung. Eine andere Wohnung zu finden, ist sehr schwierig. Wir haben schon überall gesucht, bekommen aber nur Absagen. Die Leistungsbezieher werden von den Vermietern nicht gewünscht. Das ist momentan unser größtes Problem.
Auch die Sprache muss erlernt werden. Wir haben uns schon bei der Volkshochschule angemeldet, aber wegen Corona können mit dem Deutschkurs nicht anfangen – der Kurs wird immer wieder verschoben, wir warten immer noch, um anzufangen, Deutsch zu lernen.

Elena Vogel: Was wünschen Sie sich in Ihrem neuen Zuhause? Was fehlt Ihnen, worüber freuen Sie sich besonders?

Herr Ott: In Kasachstan haben wir studiert und gearbeitet und möchten gern hier in unsere Qualifikationen beschäftigen lassen. Ich habe 2 Hochschulabschlüsse und eine große berufliche Erfahrung: Ich war für Sicherheit der Zivilisten zuständig, war bei der Bewältigung der Folgen der Naturkatastrophen im Einsatz. Mein Job war nicht einfach, aber sehr abwechslungsreich. Ich wünsche mir, auch in Deutschland in meinem Beruf arbeiten zu können. Unsere Hoffnung ist es, eine Wohnung zu finden und geimpft zu werden. Es ist schwer, ohne Bewegung und ohne Perspektive zu bleiben. Das wichtigste ist es, die Sprache zu lernen und im Beruf arbeiten zu können.
Wir vermissen unsere Verwandten, unsere Freunde und die Möglichkeit sie besuchen zu können. Es freut mich, dass meine ältere Tochter auch nach Europa ziehen möchte. Uns fehlen die Kommunikation und die Unterhaltung mit anderen. Wir haben sehr wenige Kontakte. Gut, dass wir russischsprachige Nachbarn haben, die uns auch helfen. Aber wir wünschen uns auch die Kontakte zu anderen Menschen, zu Deutschen.
Zurzeit erschwert Corona das Leben vieler Menschen, insbesondere der Menschen, welche am Anfang eines neuen Lebensabschnitts stehen. Aber die hohe Motivation und der großer Wunsch, das Leben so zu gestalten, wie es ersehnt ist, hilft zweifellos, die Träume wahr werden zu lassen.

 

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.